Mit der Zahlenreihe ist die Anzahl der Schritte zwischen beliebigen Zahlen festgelegt und damit das Ergebnis jeder Addition und Subtraktion als derjenigen Zahl, zu der man gelangt, wenn man von einer bestimmten Zahl eine bestimmte Anzahl von Schritten vorwärts oder rückwärts macht.

Wenn das stimmt, ist möglicherweise Kants Hoffnung eine Illusion, in der Mathematik das Beispiel eines Bauwerks für die Ewigkeit zu finden. Diesen Anspruch hatte er an eine Wissenschaft, die diesen Namen verdiente.

“Zuvörderst muß bemerkt werden: daß eigentliche mathematische Sätze jederzeit Urteile a priori und nicht empirisch sind, weil sie Nothwendigkeit bei sich führen, welche aus Erfahrung nicht abgenommen werden kann. Will man mir aber dieses nicht einräumen, wohlan so schränke ich meinen Satz auf die reine Mathematik ein, deren Begriff es schon mit sich bringt, daß sie nicht empirische, sondern blos reine Erkenntniß a priori enthalte.

Man sollte anfänglich wohl denken, daß der Satz 7+5=12 ein blos analytischer Satz sei, der aus dem Begriffe einer Summe von Sieben und Fünf nach dem Satz des Widerspruchs erfolge. Allein wenn man es näher betrachtet, so findet man, daß der Begriff der Summe von Sieben und Fünf nichts weiter enthalte, als die Vereinigung beider Zahlen in eine einzige, wodurch ganz und gar nicht gedacht wird, welches diese einzige Zahl sei, die beide zusammenfasst. Der Begriff von Zwölf ist keineswegs dadurch schon gedacht, daß ich mir blos jene Vereinigung von Sieben und Fünf denke; und ich mag meinen Begriff von einer solchen möglichen Summe noch so lange zergliedern, so werde ich doch darin die Zwölf nicht antreffen. Man muß über diese Begriffe hinausgehen, indem man die Anschauung zu Hülfe nimmt, die einem von beiden correspondirt, etwa seine fünf Finger oder (wie Segner in seiner Arithmetik) fünf Punkte und so nach und nach die Einheiten der in der Anschauung gegebenen Fünf zu dem Begriffe der Sieben hinzutun. Man erweitert also wirklich seinen Begriff durch diesen Satz 7+5=12 und thut zu dem ersteren Begriff einen neuen hinzu, der in jenem gar nicht gedacht war, d.i. der arithmetische Satz ist jederzeit synthetisch, welches man desto deutlicher inne wird, wenn man etwas größere Zahlen nimmt; da es denn klar einleuchtet, daß, wir möchten unsern Begriff drehen und wenden, wie wir wollen, wir, ohne die Anschauung zu Hülfe zu nehmen, vermittelst der bloßen Zergliederung unserer Begriffe, die Summe niemals finden können.1

Jeder, der unsere Zählweise der Wochentage kennt, kann sofort sagen, welcher Tag auf den Montag folgt. Bei einer Verabredung wie “wir sehen uns in zehn Tagen” wird man dagegen nicht auf Anhieb sagen können, welcher Wochentag das ist. Ändert das etwas daran, dass es ausschliesslich von unseren Festlegungen abhängt? Müssen wir in diesem Fall “über sie hinausgehen und die Anschauung zu Hilfe nehmen”? Die Anschauung kann ein Hilfsmittel sein. Sie geht aber nicht über die Festlegung der Benennungen der Tage hinaus, sondern hat sie gerade im Blick, wenn man etwa in einem Kalender nachsieht. Und das Schöpfen aus den eigenen Zeichenregeln ist es ja, was nach Kant die analytischen Sätze ausmacht. So wie Schimmel definitionsgemäss weiss sind, folgt auf Montag in zehn Tagen definitionsgemäss Donnerstag.

Man würde es wohl kaum für notwendig halten, den auf den Montag folgenden Tag Dienstag zu nennen. Wenn man sich aber darauf einigt, und irgendwie muss man sich einigen, wenn Verabredungen möglich sein sollen, steht es ein für allemal fest - anders als ein Erfahrungssatz.

Der Unterschied zwischen der Reihe der Wochentage und der Zahlenreihe besteht vor allem darin, dass die Zahlen zwar auch anhand von Gegenständen (im abstraktesten Sinn des Worts) erklärt und in Verbindung damit gebraucht werden, es aber keine Rolle spielt, was das für Gegenstände sind. Man hat in beiden Fällen Reihen und gibt den Schritten Namen. So kann man sich auf einen bestimmten Schritt beziehen, ohne auf ihn zeigen oder ihn sonst irgendwie kennzeichnen zu müssen. Wegen ihrer Universalität kann die Zahlenreihe in allen Lebensbereichen von Nutzen sein, in denen “die Dosis das Gift macht”.

Natürlich könnte man in dieser Reihe auch die zwei auf die sechs folgen lassen und die Reihe könnte auch mehr oder weniger als zehn Schritte umfassen. Binärzahlen und Dezimalzahlen lassen sich ineinander übersetzen und das gleiche gilt, wenn einem Schritt verschiedene Zeichen zugeordnet sind. Aber drückt eine Gleichung nicht unabhängig von ihrer äusseren Form eine zeitlose Wahrheit aus?

In welchem Sinn ist die Gleichung 5+7=12 denn wahr? Nicht in dem, dass zwölf Äpfel auf dem Tisch liegen, wenn man zu fünf Äpfeln sieben weitere legt. Das wäre ein Erfahrungssatz. Sondern in dem, dass zwölf Äpfel da liegen, wenn sich keiner in Luft auflöst oder aus dem Nichts erscheint.2Und das hängt ausschliesslich von unserer Festlegung der Reihe ab, davon, dass man in ihr, ausgehend von der Fünf, nach sieben Schritten bei der Zwölf ankommt. Nicht selbst gemacht, sondern "a priori" gegeben sind aber die Fähigkeiten zum Erkennen abzählbarer Gegenstände, die das Zählen erst ermöglichen.

Die Annahme von synthetischen Sätzen a priori neben analytischen Sätzen und Erfahrungssätzen ist m.E. zumindest in diesem Fall nicht aufrecht zu erhalten. Aber man könnte die Mathematik vielleicht, wenn man mehr Sinn dafür hat als ich, mit einer Kathedrale vergleichen, einer himmelstürmenden menschlichen Konstruktion, die aus wenigen Elementen und Kombinationsregeln errichtet wird.

Wo aber etwa die geometrische Konstruktion hinter der Anschauung zurückbleibt oder über sie hinausgeht, kann man tatsächlich “synthetisch a priori” beispielsweise sagen, daß man sich etwas nicht vorstellen kann - z.B. wie ein Flächenwesen aus einem Kreis nicht herauszukommen, ohne ihn zu durchbrechen oder aus einem geschlossenen Raum durch ein Ausweichmanöver in der vierten Dimension zu entkommen. Daß wir derartige Erfahrungen nicht einmal in unserer Phantasie machen können, weist die Sätze als “a priori” aus, daß sie nicht aus eigenen Voraussetzungen folgen und wir die Bedingungen dafür angeben können, unter denen wir sagen würden: jetzt machen wir sie doch, weist sie als “synthetisch” aus.

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