Woher kommt die Idee, dass man nur das eigene Innenleben, aber nicht die wirkliche Welt kennt?

Im Alltag unterscheiden wir etwa so zwischen Fällen, in denen wir sagen "es kommt dir nur so vor" und solchen, in denen wir sagen "es ist so":

Einer sieht etwas, das andere in der gleichen Situation nicht oder nicht so sehen. Dann entscheidet in der Regel die Mehrheit darüber, was als real und was als bloss subjektive Wahrnehmung gilt.
Manchmal kommt es auch auf die Umstände an. So gehen wir bei ganz ungewöhnlichen Erscheinungen in der Wüste oder auf hoher See zunächst davon aus, dass es sich um Luftspiegelungen handelt.

Im Rahmen dieser Unterscheidung kann man nicht sagen, wir wüssten grundsätzlich nur, wie uns etwas vorkäme, nicht aber, wie es wirklich sei. Denn bevor wir anfangen, von Dingen zu reden, reden wir auch nicht von Einbildungen und Ähnlichem und wenn wir von Einbildungen reden, dann mit dem gleichen Recht von Dingen.

Solche Unterscheidungen sind geradezu lebensnotwendig, besonders für Lebewesen, die regelmässig träumen und sich an ihre Träume erinnern. Sonst könnten sie auf die Idee kommen, im Gleitflug vom fünften Stock auf die Strasse zu segeln, weil das im Schlaf auch immer so gut klappt, statt die Treppe herunter zu steigen.

Wenn wir im Zweifelsfall jede Erfahrung mit anderen Erfahrungen abgleichen, steht keine Erfahrung unbezweifelbar fest. Dann könnte man, nachdem man gelernt hat, was es heißt, aufgrund besonderer Umstände an der Existenz von Dingen zu zweifeln, denken, dass wir nur unsere Vorstellungen, aber nicht die Welt kennen und das damit ausdrücken, dass wir nur noch von Vorstellungen oder Erscheinungen reden (ohne dass sich das auf unser Verhalten im Alltag auswirken würde). Es wäre aber natürlich sehr wohl möglich, Erfahrungen von Leuten, denen man einen privilegierten Zugang zur Wahrheit zuspricht, nicht zu bezweifeln, auch wenn sie nicht mit anderen Erfahrungen einer "verblendeten Mehrheit" vereinbar wären. Wir könnten annehmen, dass sie langfristig immer recht behalten. Oder wir könnten beschliessen, dass wir, bezogen auf das Erleben unter bestimmten Umständen, im nachhinein auf keinen Fall sagen würden: jetzt bin ich aufgewacht, vorhin habe ich nur geträumt. Dann hätte man das Problem einer prinzipiell unsichtbaren Welt-an-sich nicht, dafür aber möglicherweise die Probleme, die der Anlass für die Unterscheidung zwischen Realität und Illusion waren.1

Aber gibt es nicht eine vorsprachliche Unterscheidung zwischen dem eigenen Körper und der Umgebung und möglicherweise einen dadurch im Keim angelegten Zweifel an der Existenz der Aussenwelt? Ein Tier, das über ein anderes herfällt oder panisch vor ihm flieht, verhält sich zum Angreifer und zur Beute eindeutig anders als zum eigenen Körper. Vielleicht ist das eine der Wurzeln unseres Begriffs der Aussenwelt. Um einen Zweifel an der Existenz von Dingen - im Einzelfall oder generell - oder ein damit vergleichbares tatsächliches Verhalten geht es hier aber nicht. Das Tier kennt noch keine Unterscheidung zwischen Fällen realer oder bloss scheinbarer Gefahr, solange es nicht die eigenen Erfahrungen mit denen anderer vergleicht - dazu müsste es sprechen können - oder darauf kommt, dass es in bestimmten Situationen irgendwie nicht mit rechten Dingen zuzugehen scheint oder ähnliche Unterscheidungen entwickelt. Wenn also die Existenz der Aussenwelt problematisch wird, dann nur vor dem Hintergrund der menschlichen Unterscheidung zwischen Realität und Illusion.

Eine andere Wurzel des Problems könnte sein, daß Dinge nicht grösser werden, wenn man sich ihnen nähert, obwohl sie dann einen grösseren Teil des Gesichtsfelds ausfüllen und nicht kleiner, wenn man sich von ihnen entfernt. Das bedeutet aber nur, daß messen etwas anderes ist als sehen. Von einem Ding an sich - das ja auch nicht gemessen werden kann - und einer blossen Erscheinung ist hier nicht die Rede.

Dinge und Einbildungen verhalten sich komplementär zueinander - je mehr Dinge, desto weniger Einbildungen und umgekehrt - weil jede Erfahrung entweder der einen oder der anderen Kategorie zugerechnet wird.

Wenn wir die Unterscheidung zwischen Dingen und Illusionen im Denken rückgängig machen und alle Erfahrung "Erscheinung" oder "blosse Vorstellung" nennen, legen wir uns darauf fest, dass wir nie etwas erfahren können, das mehr ist als blosse Vorstellung. Das komplementäre Verhältnis zwischen den Alternativen bleibt damit gewahrt. Man kann allerdings bezweifeln, ob eine Unterscheidung, die von vornherein und nicht erst nach Ansicht der Prüfungskandidaten ein teils-teils ausschliesst, wirklich eine ist.

Andererseits kommt es plötzlich zu einer gedanklichen Verdoppelung: den meisten Innenwelt-Erscheinungen soll ein Ding der Aussenwelt entsprechen, weil sonst die Existenz einer Aussenwelt in Frage zu stehen scheint, und diese Konsequenz möchte man vermeiden. Aber ist das eine sinnvolle Vermutung? Eine Vermutung ist eine unbewiesene aber zumindest prinzipiell beweisbare Annahme. Für unsere Theorie haben wir aber selbst ein Beweisverbot aufgestellt, wenn wir uns darauf festlegen, dass unsere Erfahrungen nichts als blosse Vorstellungen sind.

Die Alltagsunterscheidung zwischen Dingen und Illusionen hat einen klaren Sinn. An der Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an sich und am Sinn von Aussagen über die Existenz von Dingen an sich sind Zweifel erlaubt.

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