nach einem alten posting von Uli Gneiting |
nacherzählt für den Hausgebrauch von Claus Zimmermann |
Ursprünglich wurde die Zeit in Tagen gemessen, denn der Lebensrhythmus wurde
durch den Wechsel von Tag und Nacht bestimmt. Kleinere Zeiteinheiten bestimmte
man nach dem Stand der Sonne oder nachts nach dem Stand anderer Sterne. Jetzt
konnte man sich z.B. verabreden. Man fing an, den Himmel systematisch zu
beobachten, stellte fest, dass sich bestimmte Himmelsphänomene so regelmäßig
wiederholen wie die Klimazyklen und kam so zu größeren Zeiteinheiten wie Jahr und
Monat.
Tage wurden nicht gemessen, sondern man maß mit ihnen und Monate und Jahre
waren Vielfache davon.
Als man allerdings das Jahr als Dauer eines Umlaufs der Erde um die Sonne und
den Tag als Dauer einer Erdrotation erklärt hatte, stellte man fest, dass eine
Erdumlaufbahn, gemessen an der Erdrotation, nicht immer genau gleich lang dauert,
es also mit diesem Zeitmass etwas längere und etwas kürzere Jahre gibt. Deshalb die
Schaltjahre.
Wenn man die Umlaufzeit der Erde ins Verhältnis zu der anderer Planeten setzen
möchte, würde das vereinfacht, wenn man die Erdumlaufzeit nicht als zu messende
leicht schwankende Größe betrachten würde, sondern als Maßeinheit, für die man in
den Formeln einen Buchstaben einsetzen könnte. Also hat man diesen Schritt
vollzogen.
Jetzt hatten es die Astronomen leichter, allerdings hatte sich die Zeitmessung damit,
wenn auch nur unmerklich, von dem für die menschliche Zeiterfahrung grundlegenden
Zyklus der Sonnenauf- und -untergänge entfernt. Aber da es sich nur um
Sekundenbruchteile handelt, merkt man das nicht. (Eine Zeitmessmethode mit
extrem schwankenden Tageslängen, Stundenlängen usw. wäre dagegen kaum
alltagstauglich; man wüsste nie, wie lang eine so gemessene Dauer nach dem eigenen
Erleben wäre.)
Das war nicht das letzte Kapitel der Zeitmessung.
Man stellte fest, dass Schwingungen im atomaren Bereich, bezogen auf die
Erdumlaufdauer, leicht schwankten. Da man überwiegend größeren Wert auf
einfache Verhältnisse in der Atomphysik legte als bei der Beschreibung unseres
Planetensystems, wurde entschieden, die Schwingungen des Caesium-Atoms zum
Maßstab zu nehmen.
Damit gab es dann wieder Schaltjahre und die Astronomen mussten sehen, wie sie
zurechtkamen.
Die Relativitätstheorie stellte dann einen Zusammenhang zwischen der
Geschwindigkeit, mit der sich das Messgerät (Uhr, Zollstock, Waage) im Verhältnis
zum gemessenen Gegenstand bewegt und dem Messergebnis her, wobei als absolute
Grenze der Geschwindigkeit die des Lichts angenommen wurde, d.h. zwei
Lichtquellen breiten sich danach im Verhältnis zueinander nicht schneller aus als im
Verhältnis zu einem Punkt zwischen ihnen.
Ob man hier die Analogie zu den bisher aus Vereinfachungsgründen vollzogenen
Wechseln des Maßstabs ganz durchhalten kann, ob man also auch ohne die Annahme
einer absoluten Grenze der Geschwindigkeit eine, wenn auch kompliziertere, Theorie
fliegender Uhren aufstellen könnte, kann ich (C.Z.) nicht beurteilen. Eine Konstante,
die man doch mehrfach gemessen haben muss, um sagen zu können, dass sie konstant
ist, ist keine Maßeinheit.
Jede Methode, die Zeit zu messen, ist für bestimmte Zwecke gut und für andere weniger gut geeignet. Welche Methode man als zweckmäßig betrachtet, hängt davon ab, was man als Zweck anerkennt.
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Hier eine Kopie der mail von Uli Gneiting.
„M.F.“ ist Martin Fricke.
Date: Mon, 11 Aug 1997 22:32:21 +0200
From: ugneiting@rll.rhein-main.de (Uli Gneiting)
Subject: Nominalismus?
To: philweb@rzaix52.rrz.uni-hamburg.de
Hallo Martin,
Am 10-Aug-97 schriebst Du an Uli Gneiting:
MF> Deine Mail vom 9.8.97 hat mich etwas verwundert, denn Du scheinst
MF> anzunehmen, ich haette mich mit Thorsten Sander auf eine nominalistische
MF> Position bezueglich moeglicher Spracheinigung verstaendigt.
Nein, der Einwand war, dass IMHO Eure Sicht der Dinge einem radikalen Nominalismus, der darin besteht alle Erkenntnisfragen in Fragen zweckmaessiger Zeichenregulierung aufloest - und nur in das - nicht gewachsen ist, und dass die vorgestellte Trennung von Tatsachen- und Bedeutungsfragen unhaltbar ist. Der konsequente Nominalismus macht alles zu Definitionsfragen, die nur zweckmaessig zu diskutieren sind, und laesst ansonsten nichts uebrig (s.u.)
MF> (1) Ich kann mir nicht vorstellen, dass schon die allgemeine Formel
MF> "Ueberlege lieber noch einmal genau, was Du wirklich sagen willst,
bevor
MF> Du den Mund aufmachst" zu dieser Art von Nominalismus fuehrt.
Diese
MF> (triviale) Formel sorgt vielleicht hoechstens dafuer, dass eine Debatte
MF> sich nicht unnoetig mit Unklarheiten aufhaelt, welche die Debattierer
MF> auch selbst durch etwas Sorgfalt vermeiden koennten.
Na ja gut, das war natuerlich weniger auf diese triviale Formel, als das, dem sie zustimmen sollte, gemuenzt.
MF> (2) Ich nehme an, dass Du Nominalismus in Thorsten Sanders
konkreterem
MF> Ausspruch witterst, wonach man sich vor der Debatte ueber die
MF>sprachlichen
MF> Mittel einigen solle. Hierzu hatte ich in meiner Antwort auf Thorsten
MF> Sander schon eine Bemerkung gemacht: Wie einigt man sich vor einer
MF> Debatte
MF> ueber sprachliche Mittel? Wohl dadurch dass man darueber spricht,
also
MF> eine Debatte fuehrt. Soll man aber vor dieser Einigungsdebatte wiederum
MF> sich erst ueber die sprachlichen Mittel dieser Debatte einigen?
MF> Offensichtlich droht ein Regress, sofern wir nicht akzeptieren, dass
es
MF> einen "Debattierlevel" gibt, auf dem es keiner vorherigen Einigung
ueber
MF> Sprachmittel bedarf, um eine Debatte zu fuehren.
Genau das ist der Punkt. Mein Argument ist, dass ein radikaler Nominalismus das nur in einem einzigen Punkt braucht - wenn er naemlich ueber die Zweckmaessigkeit seines Tuns reden will; dass es folglich nicht darauf ankommt zu diskutieren, wie aus dieser oder jener, Alltags-, Kunst-, Praezisionssparache etc. Vorgaben fuer Operationalisierungen zu gewinnen seien, sondern nur die Frage nach der Zweckmaessigkeit gestellt werden kann.
MF> Tatsachen nicht nackt, sondern schon in Sprache eingebettet sind.
Sofern
MF> hier also von Nominalismus in Deinem Sinne die Rede sein kann, ist
er
MF> eingebettet in ein nicht-nominalistisches Begriffssystem. Siehst Du
hier
MF> noch Probleme?
Natuerlich ist das gerade das, worauf ich hinaus will, aber die Frage ist halt, wie man zu sowas kommt; und ich meine halt, dass man nicht weit kommt, wenn man versucht, aus der Umgangssprache dem Nominalisten Vorgaben fuer sein Tun z.B. bei der Definition von "Laenge" machen zu wollen, weil er angeblich daran irgendwie gebunden waere.
MF> Meine These war weiterhin, dass ein Verstaendnis von dem, was
bestimmte
MF> Wissenschaften tun, ein Verstaendnis etwa davon, was es eigentlich
ist,
MF> was mit einer bestimmten Methode gemessen werden kann, dadurch
zustande
MF> kommt, dass das Gemessene in irgendeiner Weise in einem schon bekannten
MF> Sprachbereich beschrieben werden kann.
Das ist genau der Punkt, an dem ich widersprechen moechte. Ich will dazu mal versuchen einen kleinen Abriss ueber die Geschichte der Zeitmessung zu geben, soweit mir dass als Laie moeglich ist, um deutlich zu machen das Vorgaben der Umgangssprache dabei letztlich keine Rolle spielen.
Die Zeit wird traditionell in Tagen gemessen, als bezogen auf die Periodizitaet der Erdrotation. Viele wichtige Prozesse auf der Erde sind synchron zu dieser Periodizitaet, u.a. auch der Jahresrhythmus, d.h. der Umlauf der Erde um die Sonne; er ist ein konstantes Vielfaches der Erdrotation (365,2... mal).
Mit zunehmender Messgenauigkeit hat man nun festgestellt, dass bezogen auf die Erdrotation die Umlaufzeit der Erde um die Sonnen sich aendert; und mit ihr die Umlaufszeiten einiger anderer Planeten und Vorgaenge. D.h. die Gesetzmaessigkeit ihres Umlaufs war (wenn man es genau haben wollte) schwierig auszudruecken. Was hat man also gemacht? Man hat 1956 beschlossen, die Zeitmessung am Umlauf der Erde um die Sonne auszurichten; damit waren viele physikalische Gesetze wieder sehr einfach; nur ein Tag im physikalischen Sinn dauert nun nicht mehr genau 24 Std., sondern er schwankt leicht; gelegentlich wird eine Schaltsekunde eingelegt, was aber niemanden weiters stoert.
Bei noch genaueren Messungen hat man dann nochmals festgestellt, dass diese Messmethode zu Unregelmaessigkeiten im Bereicht des Umlaufs von Elektronen um Atome fuehrt, und hat sich dann dafuer entschieden, die Schwingunen des Caesium-Atoms zum Massstab zu nehmen, was bedeutet, dass nunmehr auch die Sonnenumlauf (sehr gering natuerlich) schwankt - aber man hat eine hohe Synchronitaet im Bereich der Atome und damit sehr einfache Aussagen.
Noch eine Aenderung der Messmethode ist zu erwaehnen, die allerdings fuer praktische Messungen auf der Erde kaum eine Rolle spielt, dafuer aber dem umgangssprachlichen von "Zeit" und "Laenge" umsomehr ferner liegt: Klassischerweise ging man naemlich davon aus, dass die Geschwindigkeit des Masstabes (der Uhr) im Verhaeltis zum gemessenen Gegenstand keine Rolle spielt, das ein Auto immer 4,5m lang ist und fuer die Strecke von A nach B die Zeit t braucht, egal wie schnell es am Messgeraet vorbeifaehrt. Diese implizite Verfahrensanweisung hat nun Einstein aufgegeben - nicht weil er sich bei irgendeiner Umgangssprache Rat ueber die Verwendung von "Zeit" oder "Laenge" geholt haette, sondern schlicht und ergreifend deshalb weil er keine andere Moeglichkeit sah, gewisse experimentelle Befunde (z.B. das Michelson-Morley-Experiment) bruchlos in ein einfaches System von math. Gleichungen zu integrieren. Er entschied einfach, die Lichtgeschwindigkeit unter allen Umstaenden - d.h. jenseits aller Addition von relativen Geschwindigkeiten - konstant zu setzen und daran die Zeichen "Zeit", "Laenge" und einige andere auszurichten - nicht weil er ueber die alltagssprachliche Verwendung von "Lichtgeschwindigkeit" nachgedacht hatte, oder weil er unumstoessliche empirische Beweise fuer die Konstanz hatte, sondern weil er zeigen konnte, dass er alle relevanten Phaenomen aus wenigen math. Formeln ableiten konnte - die allerdings kompliziert genug sind, dass ich sie nicht mehr nachvollziehen kann.
Man koennte vielleicht einwenden, dass jenseits aller Operationalisierung am Ende doch noch jemand vor dem Messgeraet sitzen muss und sagen muss, dass der Zeiger jetzt auf Fuenf steht. Aber auch das ist nur eine Operationalisierung, die Zuordnung eines Zeichens zu einem Vorgang, und der Nominalist wird sich vorbehalten, diese Operationalisierung jederzeit aendern zu koennen, wenn er es fuer die Bruchlosigkeit seiner Theorien zweckmaessig findet, indem er etwa festlegt, dass es drei Wissenschaftler mit Doktortitel nach vorhergaengiger Untersuchung auf ihren Geisteszustand und den Zustand ihrer Augen sein muessen.
D.h. die so verstandene nominalistische Wissenschaft ist jederzeit in der Lage, alle Arten von Diskussionen ueber Vorverstaednis etc. auszubremsen. In diesem Sinne ist jedes Vorverstaends problematisierbar und aufloesbar. Es ist voellig sinnlos, Einstein zu fragen, ob denn das noch die Zeit oder die Laenge sei, die er da messen wuerde, oder nicht vielleicht ganz was anderes; ob das denn ueberhaupt noch "Physik" sei oder die Struktur irgendeiner Kunstwelt. Damit kann man sich nur Achselzucken - und den Verweis auf die Atombombe - holen. Einstein bekommt mit seinen abartigen Messverfahren die Atombombe in seine Gleichungen hinein - diejenigen, die ein alltaegliches Verstaendnis von "Zeit" oder "Laenge" oder "Masse" als Massstab aufrichten wollen, nicht - sie koennen darueber nur als Einzelereignis reden. Das ist alles.
Nur wenn dieses Tun gefragt wird, welches denn seine Zwecke sind und ob sie denn auch wirklich erreicht werden, dann kann erst sie darauf nicht wieder mit einer Zeichenkonstruktion, die nur der Zweckmaessigkeit halber ersonnen wurde, antworten, weil das der direkte Zirkel waere. Dann erst muss sich der Nominalist entweder aus der Diskussion ausklinken, wie unser Nachwuchsprofessor Bauer, oder sich mit einem Sprach- oder Erkenntnisbegriff auseinandersetzen, der nicht mehr nur Zeichen hin- und herschiebt.
MF> (Am Rande: Vermutlich ist dies noch nicht "philosophisches Begreifen"
in
MF> Deinem Sinne. Ich habe die Vermutung, dass Begreifen in Deinem
Sinne
MF> einen
MF> gewissen "Begriffsrealismus" voraussetzt, mit dem ich wohl Probleme
MF> haette - das Problem des "Standpunkts der Philosophie".)
Hast Du nicht auch etwas von nicht-nominalistisch gesagt? Gibt’s da noch ein Tertium?
Tschau
Uli