Zuerst machen wir vielleicht mit der Gerechtigkeit Bekanntschaft, wenn das andere Kind eine Tafel Schokolade geschenkt kriegt, wir aber nicht. Wir kriegen einen Wutanfall. Da wird uns jemand vorgezogen! Das ist das Schlimme, nicht ein ungestillter Appetit auf Schokolade, der mit uns durchgeht. Die Schokolade und den Appetit hatte man ja unmittelbar vor dem Wutanfall auch nicht. Wenn wir keine Sonderrechte in Anspruch nehmen wollen und die gleiche Empfindlichkeit im nächsten Schritt auch anderen zugestehen, haben wir einen - allerdings noch sehr anfängerhaften - Gerechtigkeitssinn entwickelt. Das Wesentliche an der Gerechtigkeit ist aber nicht die Gleichbehandlung, denn man könnte ja auch immer in gleicher Weise ungerecht handeln und behandelt werden.

Vielleicht erklärt man uns, daß das andere Kind Geburtstag hat - dann bekommt man ein Geschenk - oder krank war - dann muss man getröstet werden - und bringt das mit dem Wort "gerecht" in Verbindung.

Wesentlich für den Gerechtigkeitssinn scheint zu sein, daß wir empört oder zumindest mit innerem Kopfschütteln auf Unrecht reagieren. Wer das nicht kennt, was weiß der von Gerechtigkeit? Aber wir empören uns z.B. auch über sehr schlechte Manieren und es ist schwer, die eine Empörung von der anderen zu unterscheiden. Wie sollten wir also dadurch feststellen können, was gerecht ist? Vielleicht verhält sich die Empfindung zum Gerechtigkeitsurteil wie sie sich in der Musik zur Strukturwahrnehmung (Wahrnehmung einer Folge von Klängen als Einheit) verhält: ohne Musik wäre die Empfindung nicht etwa ein halbiertes Musikerlebnis, sondern gar keins, aber ohne Empfindung wäre es auch keins. Eine schöne Melodie ist eine, die unser Herz höher schlagen lässt. Aber wenn unser Herz höher schlägt, muss das nicht unbedingt an einer schönen Melodie liegen. Die Empfindung, die sich mit bestimmten Formen oder Situationen verbindet, ergibt das Gesamtkunstwerk.

Also was ist es, worüber wir uns da aufregen? Lässt es sich beschreiben oder nur mit dem Wort "Ungerechtigkeit" bezeichnen? - das dann in die gleiche Kategorie wie die Worte "blau" oder "salzig" gehören würde. Dann wären alle verbalen Definitionsversuche aussichtslos. Wir können aber Fälle gerechten Handelns beschreiben und nicht nur anschaulich demonstrieren. Allerdings gehen an dieser Stelle die Ansichten auseinander. Was man für gerecht hält, hängt davon ab, wie man die Welt sieht und was einem eingetrichtert wurde. Wer glaubt, daß Gott jeden an seinen Platz gestellt hat, wird ganz andere Gerechtigkeitsvorstellungen haben als jemand, der an einen fundamentalen Unterschied zwischen Gläubigen und Ungläubigen oder zwischen verschiedenen Rassen glaubt oder jemand, der nichts davon glaubt.

Die Verpflichtung auf die Gerechtigkeit muss und darf nicht begründet werden, wenn sie nicht nur Mittel zu einem anderen Zweck sein soll, mit dem sie dann stünde und fiele.1 Was das genau bedeutet - das Kleingedruckte sozusagen - allerdings schon. Darüber kann man verschiedener Ansicht sein, ohne das Prinzip aufzugeben und diese Ansichten sind auch begründungsbedürftig. Es darf natürlich nicht inhaltslos sein, sonst würde eine Verpflichtung nichts bedeuten. Zum allgemein akzeptierten Kern dürfte gehören, daß es keine willkürliche Benachteiligung geben darf.

Das muß man nicht so sehen. Man kann, wenn man damit leben möchte, das Prinzip auch komplett aufgeben und sich etwa auf den Standpunkt stellen, daß es nicht auf Gerechtigkeit, sondern nur auf Stärke ankommt.

Wie kam der kleine Junge auf die Idee, daß der Sandkastenkollege auch nicht leben soll wie ein Hund? Vielleicht weil er ihn ins Herz geschlossen hat? In diesem Fall ist die Gerechtigkeit weniger eine Sache des Sollens als eine des Wollens und damit doch naturrechtlich begründet, nämlich durch unsere eigene Natur, der “natürlich” auch weniger harmonische Empfindungen nicht fremd sind. Oder bedeutet das nur, daß die Neigung zwar die Kinderstube der Pflicht ist, mehr aber auch nicht?

Man kann den Begriff oder seine Anwendung als dreigliedrig betrachten. Ein Anteil oder seine vorsprachliche Voraussetzung ist angeboren oder zugeflogen, einer ist man selbst als Instanz über oder unter der kulturellen Überformung des affektiven Anteils.

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